
Ein Bericht von Rebecca Pini
Frankfurt am Main. Rund 60 Gäste verfolgten am 18. September 2024 im Sigmund-Freud-Institut einen Vortrag des Soziologen Hendrik Hebauf über die Thesen des Historikers und Genozidforschers A. Dirk Moses. Unter dem Titel „Rationalisierung des Wahns: Erinnerung, Gewalt und der Holocaust bei A. Dirk Moses“ analysierte Hebauf die Genese und Wirkung von Moses’ Gewalt- und Erinnerungstheorie – und verortete sie im Spannungsfeld zwischen US-amerikanischer Debattenkultur, deutscher Erinnerungspolitik und aktuellen Kontroversen um Israel und Gaza. Veranstalter waren die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) Frankfurt und der interdisziplinäre Forschungsverbund „Antisemitismuserfahrung in der dritten Generation“ am Sigmund-Freud-Institut.
Vom Historikerstreit 2.0 zur „permanenten Sicherheit“
Hebauf setzt biografisch und ideengeschichtlich an. Moses habe sich in den 1990er-Jahren in den USA politisch und akademisch sozialisiert – in einer Zeit, in der der Holocaust im amerikanischen Diskurs stark an Sichtbarkeit gewann (Museumsgründungen, Studiengänge, Gedenkinitiativen), zugleich aber Gegenbewegungen aufkamen. In Teilen der Linken sei die Singularität des Holocausts als politisch motivierte „Hierarchisierung von Leid“ kritisiert worden; Hebauf nennt etwa Debatten, in denen Begriffe wie „Black Holocaust“ oder „American Indian Holocaust“ populär wurden und Stimmen wie Noam Chomsky, Norman Finkelstein, David Stannard oder Ward Churchill die US-Holocaust-Erinnerung als machtförmig und exklusiv betrachteten.
Vor diesem Hintergrund ordnet Hebauf Moses’ wissenschaftliche Interventionen ein: Dessen Hauptwerk „Problems of Genocide“ (2021) greife die juristische Genozid-Definition nach Raphael Lemkin an, weil sie – so Moses – eine „eingebaute Schwelle“ enthalte, die Gewalt nur dann als Genozid anerkenne, wenn sie dem Holocaust ähnele. Stattdessen schlage Moses den Oberbegriff „permanente Sicherheit“ vor: ein Rahmen, unter dem sich sämtliche Formen staatlicher Gewalt gegen Zivilisten – vom Kolonialkrieg bis zur Vernichtungspolitik – fassen ließen.
Hebauf kritisiert diese Verschiebung scharf. Methodisch werde Geschichte in abstrakte Kategorien gepresst; politisch drohe eine Nivellierung von Unterschieden, die am Ende „Auschwitz und Dresden als eins“ erscheinen lasse. Besonders anstößig sei für ihn Moses’ positive Bezugnahme auf den Begriff „permanente Sicherheit“ aus der Nürnberger Aussage des SS-Führers Otto Ohlendorf – also aus der schuldabwehrenden Selbstrechtfertigung eines Haupttäters. Wer daraus einen Schlüsselbegriff der Gewaltanalyse mache, „überlasse die NS-Verbrechen der Ununterscheidbarkeit von Wahn und Rationalität“, so Hebaufs Tenor.
Von Opfer- zu Täterlogiken
Zentraler Vorwurf Hebaufs: Moses’ Universalismus verschiebe den Fokus von Opfer- zu Täterlogiken – und zwar ohne belastbare Kriterien, reale Bedrohung und paranoide Projektion analytisch auseinanderzuhalten. Wer alles unter „permanente Sicherheit“ subsumiere, verliere den Sinn für Spezifisches: die besonderen Voraussetzungen, Motive und Strukturen des nationalsozialistischen Judenmords. Zugleich erkenne Moses postnazistische Schuldabwehrmuster nicht als solche, wenn er deren Sprache – die Rationalisierung extremer Gewalt als vermeintliche Notwehr – theoretisch aufwerte.
Hebauf verbindet diese Kritik mit einer deutschlandbezogenen Perspektive: Seit den 1980er-Jahren habe sich in Elitenmilieus eine „postheroische“ Selbstbeschreibung etabliert, in der nationale Legitimation auch aus der Anerkennung eigener Täterschaft bezogen werde. Daran knüpften, so Hebauf, Teile der heutigen Kritik an der Erinnerungskultur an – teils mit ausdrücklicher Bewunderung für die „deutsche Aufarbeitung“. Gerade deshalb komme es darauf an, methodische Präzision zu wahren: Wer den Holocaust nur als Beispiel unter vielen diskursiv verflache, entkerne das, was ihn historisch-strukturell ausmacht.
Israel/Gaza: Deutungslärm statt Erkenntnis
Deutlich wurde, warum diese Auseinandersetzung heute brisant ist. Seit dem 7. Oktober 2023 und dem anschließenden Krieg in Gaza stehen Begriffe wie „Genozid“, „Kolonialismus“ und „Sicherheit“ im Zentrum globaler Protest-, Medien- und Rechtsdiskurse. Hebaufs Kritik an Moses zielt auf deren theoretische Anschlussstellen: Wird „permanente Sicherheit“ zum alles erklärenden Motiv, droht die Unterscheidung zwischen Selbstverteidigung angesichts realer Gewalt (z. B. Terrorangriffe, Geiselnahmen, Raketenbeschuss) und ideologisch begründeter Vernichtungsfantasie zu verwischen. Umgekehrt kann eine holzschnitthafte Singularitätspolemik die Wahrnehmung anderer Massengewalten verengen.
Hebauf plädiert implizit für einen doppelten Maßstab:
- Historische Spezifik des Holocausts ernstnehmen (Akteursstruktur, Ideologie, totalisierender Vernichtungswille, europäischer Kontext) – ohne andere Verbrechen zu relativieren.
- Begriffe sorgfältig führen, insbesondere in aktuellen Konflikten: „Genozid“ ist ein rechtsförmiger Tatbestand mit enger Definition; „Sicherheit“ ist politisch, psychologisch und militärisch mehrdeutig. Wer beides verkürzt, produziert mehr Deutungslärm als Erkenntnis.
Gerade im deutschen Kontext – mit Staatsräson, lebendiger Erinnerungskultur und intensiven Debatten über Proteste, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit – sei die Versuchung groß, schnelle Deutungsbrücken zu schlagen. Hebauf zeigt, wie riskant das wird, wenn Begriffe aus Täterrhetoriken historisch entkontextualisiert und dann als „kritische Theorie“ re-importiert werden. Die Folge wäre ein Diskurs, in dem jede Gewalt als gleich erscheint – und damit niemandes Verantwortung mehr präzise bestimmt werden kann.
Diskussion und Fragen aus dem Publikum
In der anschließenden Diskussion (rund 30 Minuten) ging es um Grenzen des Vergleichs, um die Rolle von Rechtsbegriffen (Genozid vs. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen) sowie um Wirkungen postkolonialer Theorie in deutschsprachigen Debatten. Wiederkehrender Punkt war die Gefahr einer semantischen Entwertung, wenn starke Begriffe („Genozid“, „Holocaust“) entgrenzt werden – ebenso wie die Frage, wie kritische Forschung ohne Relativierung auskommt.
Methodenkritik statt Kulturkampf
Hebaufs Vortrag liefert keinen kulturkämpferischen Schlagabtausch, sondern eine methodenkritische Intervention: Er zeigt, wie Moses’ Universalismus historische Profile einebnet, Täterrhetorik (Stichwort „permanente Sicherheit“) theoretisch adelt und dadurch Sinn für Differenz verliert – mit spürbaren Folgen für die Gegenwartsdebatte zu Israel/Gaza. Wer die Spezifik des Holocausts ernst nimmt, muss zugleich präzise Kategorien pflegen, wenn er aktuelle Gewalt bewertet. In Zeiten erhitzter Anschuldigungen ist das unspektakulär – aber entscheidend für orientierende Urteilskraft.
Zur Vertiefung des Themas empfiehlt sich der Artikel von Hedrik Hebauf „A. Dirk Moses und die ‚Katechismusdebatte‘: Epistemologische und methodologische Abwege einer erneuerten deutschen Erinnerung“ in der Fachzeitschrift Naharaim.